Postmigrant*innen

Es fehlt derzeit an einer etablierten Bezeichnung, welche die nationale und kulturelle Mehrfachzugehörigkeit und -identifikation von Individuen wertneutral beschreibt. Während Mehrfachzugehörigkeit im identitären Kontext als postmoderne Normalität anerkannt wird, gilt für die nationalen, ethnischen und kulturellen Zugehörigkeiten zumindest in Deutschland noch immer das Kriterium der einseitigen Entscheidung, die mit dem Gedanken der Assimilation als Vision einer gelungenen Integration einhergeht. […]
Die Verbundenheit mit Deutschland als Heimat findet auf mehreren Ebenen statt. Die kognitive und pragmatische Bezeichnung von Deutschland als Heimat, als „dort, wo mein Haus steht, und dort, wo meine Familie wohnt“, kann dabei teilweise die emotionale Bindung an einen Sehnsuchtsort in der Ferne, der ebenfalls mit Heimat assoziiert wird, nicht ersetzen. Dies liegt an dem der Migration inhärenten Moment, der immer mit dem Verlassen eines Zuhauses oder einer Heimat einhergeht. Diese teilweise nur tradierte Vergangenheit wird im Kontext der familiären Erzählstruktur und der nicht erfahrenen Alltagsentzauberung zu einem Wunschort stilisiert, der in jedem Moment der Unzufriedenheit eine virtuelle Rückzugsoption anbietet – auch wenn diese realiter nicht gegeben ist. Zusätzlich wird von Seiten der ersten Generation der Einwanderer, der Familie oder Community teilweise Druck auf die Folgegenerationen aufgebaut, sich den ursprünglichen Herkunftsländern nicht zu entfremden.
Die zum Teil fehlende emotionale Verbundenheit mit Deutschland liegt allerdings auch an Diskriminierungserfahrungen sowie mangelnder Aufnahmebereitschaft von Seiten der autochthonen Gesellschaft, welche noch immer teils bewusst, teils unbewusst das „Deutschsein“ auf phänotypische Merkmale reduziert. Es liegt aber auch an den spezifischen Kriterien der deutschen nationalen Identität, die es auch Herkunftsdeutschen nicht leicht macht, affirmativ die Nationalitätszugehörigkeit zu artikulieren. Eine Zugehörigkeit zu Deutschland wird als etwas suggeriert, das sich „Migranten“ erst erarbeiten müssen. Gleichzeitig ist festzustellen, dass trotz Fortschritten in der strukturellen Integration (Bildung und Arbeit) eine kulturelle Integration über den Verfassungspatriotismus hinaus erwartet wird, die an Anpassungen an eine nicht näher definierbare deutsche Leitkultur gekoppelt wird.
Gerade für jenes Drittel der Postmigranten, die vom Mikrozensus als „Menschen ohne eigene Migrationserfahrung“ erfasst werden, ist Integration ohnehin kein Diskussionskriterium ihrer Selbstbeschreibung. Migrationshintergrund und Mehrsprachigkeit werden vor allem als Bereicherung wahrgenommen. Für diese Postmigranten sind Deutsch- oder Integrationskurse etwas, das bestenfalls noch ihre Eltern betreffen könnte, eher ihre Großeltern und eben neu Zugewanderte. Bei ihnen ist stattdessen verstärkt ein mehrkulturelles Selbstbewusstsein zu beobachten, ohne ihre „Wurzeln“ vergessen zu wollen, samt einer für sich selbst angenommenen postintegrativen Perspektive: Sie sind längst in dieser Gesellschaft angekommen, zumindest aus ihrer Sicht und aus der Sicht jenes Teils der Bevölkerung, der in Deutschland ein plurales, heterogenes und postmodernes Land sieht.

Definition nach Naika Foroutan